Das ehrliche Interview (4) – mit Tanja Bettermann: „Ich will Eltern stärken!“

22. Jun, 2018

Ende März treffe ich Tanja Bettermann in meinem Coaching-Raum. Draußen regnet es ein bisschen,

Tanja Bettermann

aber wir machen es uns gemütlich. Tanja habe ich über die Fachwerk-Frauen Langenfeld kennengelernt, ein Zusammenschluss selbstständiger Unternehmerinnen, bei dem sie über 4 Jahre lang 2. Vorsitzende war und dort auch viel bewegt hat. Dazu beigetragen hat sicherlich ihre sehr positive und freundliche Art, aber auch, dass sie in meinen Augen ein wahres „Netzwerk-Monster“ ist: Egal, wo du bei uns der Region zum Thema Frauen und/ oder Familie schaust – du wirst immer wieder auf Tanja Bettermann und Ihre Agentur Familienzeit stoßen. Das klingt nach ganz viel Power und guter Organisation. Das steckt auch drin: Tanja ist dreifache Mutter, Selbstständige und engagiert in Ihrem Umfeld. Sie hat aber auch schon sehr harte Zeiten erlebt. Über all das sprechen wir in diesem wunderbaren Interview. Es ist vielleicht etwas länger als gewohnt, dafür aber prallvoll mit viel Inspiration!

Julia Peters (JP): Liebe Tanja, schön dass du da bist und herzlich willkommen im ehrlichen Interview.

Tanja Bettermann (TB): Ja, danke für die Einladung.

JP: Am Anfang wäre es schön, wenn du dich einfach nochmal vorstellst – Name, Alter, Familie. Wie alt sind die Kinder? Alles, was man über dich wissen sollte… 😊

TB: Okay. Mein Name ist Tanja Bettermann. Ich bin Diplom-Kauffrau, habe BWL studiert und dann jahrelang im Marketing und Vertrieb gearbeitet. Ich bin 52 Jahre alt und seit 20 Jahren verheiratet – immer noch. (lacht) Und habe drei Kinder, die Sarah, die ist 18 und jetzt mitten im Abitur. Und Patrick und Luis, Zwillinge, die sind 15. Sie sind auf 2 verschiedenen Schulen (Freie Christliche Schule in Düsseldorf und Wirtschaftsgymnasium in Hilden), am Anfang der Oberstufe.

JP: Danke dir! Beim ehrlichen Interview geht es ja darum, dass wir so ein bisschen auch hinter die Kulissen gucken. Ich habe mich sehr darüber gefreut, dass du zugesagt hast, weil du ja aus zwei Richtungen darauf guckst. Das eine ist, du hast dieses pralle Familienleben selber jahrelang gehabt. Das andere ist, du bist beruflich auch in dem Thema Familie unterwegs. Wobei ich letztens gelernt habe, Langnese hat bei dir beruflich auch mal eine Rolle gespielt?

TB: Genau, das war damals mein erster Job.

Beruflicher Start als Eis-Vermarkterin, 3 Kinder & alles im Griff…

JP: Du hast wirklich Eis vermarktet oder Eissorten verkauft?

TB: Ja, ich war bei Unilever und Langnese/Iglo war eine Tochterfirma. Ich habe nach der Uni dort ein Trainee-Programm gemacht. Da gehörten drei Monate Vertrieb dazu und so war ich in Berlin, Leipzig, Halle unterwegs, habe Kunden besucht, die Eis-Preistafeln aufgehängt, Kühltruhen sortiert…

(eigentlich sollte man jetzt dem Lebenslauf folgen, aber bei Tanja bietet sich das Thema Familie so unfassbar an, dass ich direkt einsteige)

JP: Wie alt warst du dann, als das Thema Kinder aufkam?

TB: Ich habe erst sehr spät Kinder bekommen – mit 33. Und dann mit 36 die Zwillinge. Wir wollten ein zweites Kind und dann kam halt ein Doppelpack. (lacht)

JP: Ein doppeltes Geschenk?

TB: Genau. Genau. Geschenk und Herausforderung, muss man schon sagen.

JP: Wie bist du das dann angegangen am Anfang mit den Kindern? Wie habt ihr euch zuhause organisiert?

TB: Mein Mann war und ist beruflich sehr eingespannt und viel unterwegs. Und als Sarah geboren wurde, hat er noch in Brüssel gearbeitet. Als die Jungs kamen, hat er gerade seinen MBA gemacht. Mein Mann unterstützt mich, wenn es geht, aber der rote Faden der Familienorganisation liegt eher bei mir. Dafür macht mein Mann am Wochenende viel. Er kocht sehr gerne, was ich nicht so gerne mache. Er lässt mir auch beruflich meine Freiheiten. Er hat nie irgendwas irgendwie angezweifelt oder mir vorgeworfen. Da bin ich ihm sehr dankbar für – wir sprechen halt auch viel miteinander.

Meine Unabhängigkeit ist mir immer sehr wichtig gewesen. Als ich schwanger wurde, habe ich gleich gesagt, dass ich auf jeden Fall weiterarbeiten möchte. Das halte ich für wichtig, klare Signale zu geben. Und so kam die Firma auf mich zu, ob ich ein neues Projekt, Risikomanagement, aufbauen wollte – in Teilzeit. Das hatte in dem Sinne nichts mit Marketing zu tun – aber neue Sachen haben mich immer schon interessiert. Das habe ich dann gemacht und konnte Sarah mit ins Büro nehmen bzw. auch viel von zuhause arbeiten. Auch meine Eltern haben mir zu der Zeit Sarah noch öfter abgenommen. Bei den Jungs war mein Vater schon zum Pflegefall geworden. Das ging dann eher anders herum, dass ich mich auch noch darum kümmern musste – Betreuungsverfahren, Organisation der Pflege und sowas. Ich habe eigentlich eine ganz gute Konstitution und habe das alles immer ganz gut hingekriegt. Aber 2013 kam dann die Diagnose Brustkrebs. Da habe ich gemerkt, dass ich doch zu wenig für mich selber da war.

…dann die Diagnose Brustkrebs

JP: Das hast du mir mal irgendwann erzählt, aber wir sind damals nicht tiefer eingestiegen in das Thema. Du hattest bis dahin also die Rolle der Familienmanagerin: Du hast eigentlich die ganze Verantwortung für den Familienalltag getragen. Dann 2013 dieser Einschnitt. Wie bist du damit umgegangen? Wie geht Vereinbarkeit, überhaupt die Aufgabe einer Familienmanagerin mit der Diagnose Krebs?

TB: Ich hatte damals wieder einmal das Glück an meine Seite. Naja, was heißt schon Glück…. Mein Mann arbeitet in der Medizintechnik und ist ausgerechnet für seine Arbeit in den Brustzentren Deutschlands unterwegs. Vielleicht zur Erklärung: Brustzentren sind speziell ausgerichtete Krankenhäuser, die sich auf die Behandlung von unter anderem Brustkrebs spezialisiert haben. Er hat für mich telefoniert und Termine gemacht. Zwei Tage später war ich schon in Düsseldorf bei einem der Top-Spezialisten aus dieser Region. Das zweite Glück bestand darin, dass dieser Krebs noch in einem frühen Stadium war. Es gab noch keine Metastasen und insofern brauchte ich auch keine Chemo. Es gab also eine OP und Bestrahlung, und ich nehme auch jetzt noch Medikamente. Aber damit konnte und kann ich das gut beherrschen. Zu der Zeit hatte mein Mann beruflich eine ruhigere Phase und war mehr zuhause. Deshalb konnte er damals auch bei allen Untersuchungen und Terminen dabei sein. Das war super! Darüber hinaus gab es eine Bekannte, von der ich wusste, dass sie auch Brustkrebs gehabt hatte. Das habe ich genutzt: Ich bin zu ihr gegangen und habe sie regelrecht ausgefragt: Kannst du mir helfen? Kannst du mir Tipps geben? Sie hat mir wirklich toll zur Seite gestanden und mich mit vielen guten Informationen versorgt. Insgesamt gesehen bin ich mit einem blauen Auge davongekommen. Meine Bestrahlung fand immer morgens um halb acht in Hilden statt und danach ging es ins Büro. Diese Normalität war wichtig für mich. Aber ja, insgesamt war es doch ein ganz heftiger Schlag.

Ein Jahr gebraucht, um sich von der ganzen Sache zu erholen…

Dabei geholfen hat mir eine Eltern-Kind-Kur für an Brustkrebs erkrankte Mütter – auch ein Tipp von meiner Bekannten: Es gibt eine ganz tolle Frau aus Ratingen, die selber erkrankt war und die mit ihrer Stiftung diese Möglichkeit in Grömitz geschaffen hat. Alle drei Wochen kommt eine neue Gruppe von Frauen, die Brustkrebs überstanden haben, mit ihren Kindern dorthin. Und bei meiner Gruppe war ich dann ehrlich gesagt echt schockiert, weil die meisten viel jünger waren als ich und auch noch kleine Kinder hatten. Für diese Kur bin ich heute noch sehr dankbar. Es gab dort Gruppengespräche und auch die Kinder wurden super aufgefangen – sie hatten sich dort zu einer tollen Gruppe zusammengefunden. Die Zeit dort hat uns allen gutgetan. Es war schon schwer, mit der Krankheit zu kämpfen und gleichzeitig zu versuchen, die Kinder nicht zu sehr zu belasten. Vor allem meine Tochter hat das sehr mitgenommen. ´

Nach der Behandlung habe ich auch noch eine psycho-onkologische Gesprächstherapie gemacht.

Aber mich hat eigentlich mein Glaube hochgehalten, ein inneres Wissen von „Das wird schon!“.

Und ein sich Zutrauen, ein Vertrauen… ich habe immer nach vorne geschaut! Klar hatte ich meine Durchhänger, das gehört dazu. Aber vielleicht war ich auch so positiv unterwegs, weil ich den Tumor – eine Erhebung in der Brust – selber entdeckt hatte. Bis heute führe ich das auch darauf zurück, dass sich meine Eigen-Wahrnehmung verändert hatte – dadurch, dass ich angefangen hatte, mehr für mich zu tun. Etwa ein halbes Jahr vor der Entdeckung der Krankheit hatte ich mit Shiatsu angefangen. Bei Ulrike Taudien-Arndt hier in Langenfeld.

Sie hatte ich auf einer Messe kennengelernt. Das ist zum Beispiel eine meiner ganz großen Stärken: Ich bin sehr offen, neugierig und an vielem interessiert. Ich nehme Chancen, die sich mir bieten, sehr gerne wahr. Ulrike wollte die Agentur (Familienzeit) kennenlernen und ich wollte Shiatsu kennenlernen. So bin ich zum Shiatsu gekommen. Ulrike hat mir damals schon gesagt: “Du weißt gar nicht, was Entspannung ist”. Da hatte sie leider Recht.

Das alles passierte gleichzeitig dazu, dass ich eigentlich gerade so richtig mit meiner Selbstständigkeit und dem Frauennetzwerk durchstarten wollte. Ich hatte gerade einen größeren Auftrag bekommen und habe nur gedacht: „Das geht jetzt gar nicht!“

JP: Das heißt, die Diagnose kam fast zeitgleich damit, dass du eigentlich beruflich wieder so richtig Gas geben wolltest?

B: Ja, ich war schon relativ weit gekommen mit meiner Selbständigkeit und das wollte ich jetzt nicht wieder aufgeben.

JP: OK, wir sind jetzt etwas gesprungen in deiner beruflichen Vita. Nach Deiner Zeit bei Langnese-Iglo, warst Du kurz bei RTL und dann bei ista, damals eine Tochtergesellschaft von e.on.  Von dort hast du also in die Selbstständigkeit gewechselt gehabt, vor der Diagnose.

TB: Als Sarah in den Kindergarten kam, habe ich habe mich im dort Förderverein engagiert und Claudia Rapp kennengelernt. Mit ihr war ich sofort auf einer Wellenlänge. Claudia hatte auch BWL studiert, aber sie hatte ihren Job für die Familie komplett aufgegeben.

Erst Angestellte, dann Selbstständige: Eine Idee wird geboren

Vor dem Kindergarten gab es immer wieder diese Gespräche: Wo kann man denn Kindergeburtstag feiern? Zu welchem Kinderarzt geht ihr? Und welchen Homöopathen? Und dies und jenes. 100 kleine Informationen, die Mütter nun mal suchen und brauchen. Da entstand in meinem Kopf diese Idee, dass man dafür doch etwas anbieten könnte. Schon 1990 habe ich meine Diplomarbeit über digitale Werbemöglichkeiten geschrieben, als es das Internet noch gar nicht gab. Damals hatte ich diesen Studenten-Job am Lehrstuhl für Wirtschaftsinformatik, und da fiel mir ein Computerspiel von Ford aus den USA in die Hände – das war noch so ganz einfach gestaltet. Man konnte kleine Rennen fahren und ein Auto ausprobieren – eben als Werbung angelegt.  Auf dieser Basis hatte ich also damals analysiert, wie sich das entwickeln könnte. Natürlich war und ist es danach sehr faszinierend gewesen, dass vieles von dem, was ich mal überlegt und angedacht habe, heute tatsächlich existiert bzw noch viel weiter gegangen ist. Und die technische Seite macht mir auch bis heute noch Spaß: die Webseite im Hintergrund selber managen, Banner und alles zusammenzubauen, auch wenn ich jetzt einen Programmierer dazu geholt habe.

Zurück nach 2003: Ich hatte also Claudia kennengelernt. Und wir konkretisierten unser Projekt – damals mit dem Projektnamen MUM(M) – Mut zum Kind. Damals hieß die Elternzeit noch  Erziehungsurlaub, Kinderbetreuung konnte man steuerlich nicht absetzen. All die Erleichterungen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf kamen ja erst später – erst so ca. 2007, mit Frau von der Leyen als Familienministerin.

JP: Da lerne ich noch richtig was dazu. 2007. Gerade mal gute 10 Jahre haben wir zumindest einige dieser Möglichkeiten.

TB: Deswegen war ich auch schon bei der Firma damals in Essen oft eine Anlaufstelle für diejenigen, die schwanger waren. Die Fragen waren ja immer schon die gleichen: Wie machst denn du das mit Arbeiten und Kindern und Kinderbetreuung? Wie lange gehst du in Elternzeit? 2003 als Angestellte war mir also schon klar, dass es da einen Bedarf zu geben schien. Ich war durch Umstrukturierungen mit meinem Thema Risikomanagement im Controlling gelandet. … das war aber nicht so meine Welt. Dazu kamen die weiten Fahrstrecken nach Essen und die Unterstützung meiner Mutter bei der Pflege meines Vaters. Die Zeit war reif! 2008 gab es zum wiederholten Mal eine solche Kündigungswelle, und diesmal war ich mit dabei. Da hat mein Chef tatsächlich allen Müttern in der Abteilung gekündigt. Ich habe noch eine Abfindung ausgehandelt und eine Übergangszeit. Und noch im gleichen Jahr haben Claudia und ich also den Sprung gewagt: Hopp oder topp! Ab 2008 haben wir unsere Agentur dann Schritt für Schritt zusammen aufgebaut – als unseren Ansatz zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Und dann 2013, wo das so langsam Fahrt aufnahm, kam die Diagnose. Auch deswegen, nach all der Aufbauarbeit, habe ich gedacht „Jetzt lässt du dich hier nicht unterkriegen!“

JP: Das klingt nach ganz schön viel Kampfesgeist. Und dem Willen, etwas auf die Beine zu stellen. Liegt das irgendwie in der Familie?

TB: Kann man so sagen. Ich wollte schon mit 16 einen Wollladen aufmachen. Damals in den 80ern als Stricken so angesagt war. Und sowohl mein Vater als auch meine Großeltern, sie alle waren selbstständig.

Ich habe die Selbstständigkeit immer schon als interessante Option für mich betrachtet.

Im Nachhinein war es für mich die richtige Option, auch um alles unter einen Hut zu bekommen – Beruf und Familie. Ich konnte mir nie vorstellen, nur zu Hause bei der Familie zu sein. Ich wollte auch immer noch andere Gesprächsinhalte haben als „Wann hat das Kind geschlafen und wie viel und was hat es gegessen?“ und so. Mein Beruf war mir immer wichtig – als zweites Standbein. In der Familienarbeit gibt es ja nicht wirklich Anerkennung für das was man so tut.

JP: Wenn du zurückschaust in die Zeiten vor und nach der Diagnose, was waren deine großen Herausforderungen? Und was war auf der anderen Seite in der Zeit für dich wichtig zu machen?

TB: Kinder großzuziehen ist wie ein Marathonlauf – mit immer wieder neuen Herausforderungen. Erst jetzt, wo unsere Kinder 15 und 18 sind, kann man erkennen, was aus unseren Vorstellungen geworden ist. Ich war oft unsicher, was richtig und was falsch ist – vor Allem weil ich das ja nicht gelernt habe, keine pädagogische Ausbildung habe. So habe ich versucht, mir über Fortbildungen z.B. beim Kinderschutzbund, verschiedenste Vorträge und Internet-Quellen Wissen anzueignen. Am schwierigsten fand ich wirklich den Umgang mit den Institutionen. Mir gefällt das afrikanische Sprichwort: “Es braucht ein Dorf, um ein Kind zu erziehen” – also viele Beteiligte, die mithelfen und Verantwortung zum Wohl des Kindes übernehmen. Das war vielleicht zu naiv – möglicherweise hatte ich zu hohe Erwartungen und ich war wahrscheinlich auch zu kritisch. In punkto Kommunikation habe ich viel dazugelernt!

TB: Meine Kompetenz als Mutter wurde immer wieder angezweifelt  – es lief ja nicht rund in der Grundschule. Leider stellte sich erst in der dritten Klasse heraus, dass ich mit meiner Intuition richtig lag und es ein reales Problem gab: Bei den Jungs wurde eine auditive Wahrnehmungsstörung festgestellt – sie können Geräusche und Stimmen sehr schlecht filtern. Dafür war das Unterrichtsmodell der Lehrkraft dann auch nicht geeignet (Wir bringen uns die Buchstaben selber bei) und die Jungs haben letztendlich die Schule gewechselt.

JP: Was würdest du rückblickend aus der Zeit anderen Müttern raten? Also, wenn sie berufstätig sind und feststellen, das Kind hat sich verändert?

Eltern können ihre Verantwortung nicht an die Schulen abgeben – das System ist oft überfordert.

TB: Es ist schwierig, vor allem wenn das Kind wenig erzählt. Was hilft: Du kannst nur wirklich versuchen herauszufinden, was sich da abspielt. Im Gespräch mit anderen Eltern, den Lehrkräften und immer wieder das Gespräch mit dem Kind suchen. Versuchen das Gesamtbild zusammenzusetzen – ein bisschen wie Sherlock Holmes. Die Schülerakte zeigen lassen. Das ist auch ein Ziel unseres Eltern-Info-Portals www.agentur-familienzeit.de, wo wir Informationen zusammenstellen, wie Eltern sich in solchen Situationen helfen können.

JP: Du hast bei deinem Kind gesehen, es ist anders als sonst. Du warst wachsam für Verhaltensänderungen im weitesten Sinne, konntest dir das aber nicht wirklich erklären.  Du bist dem nachgegangen, hast mit anderen Eltern Kontakt gehalten. Das heißt, Kontakt halten mit anderen Eltern wäre ja tatsächlich so ein Ratschlag, um wirklich mitzukriegen, was in der Klasse passiert. Und eben nicht die Verantwortung für das Kind komplett bei der Schule oder in der Betreuung abzugeben.

TB: Ja – letztendlich ist man auch Anwalt des Kindes.

Ich will die Eltern stärken!

Wie gesagt: Ich denke, Eltern haben mitunter einen ganz schlechten Ruf in dieser Gesellschaft. Egal was sie machen, sie machen es nur falsch. Manchmal habe ich den Eindruck, dass Eltern zwar gerne gesehen sind als Arbeitskraft für Kuchen backen, Feste organisieren, Büchereidienste usw. Aber nicht als Partner auf Augenhöhe – die erzieherische Kompetenz wird dir von vielen komplett abgeschrieben, vielleicht weil es kein Eltern-Diplom gibt? Und die anderen die gelernten Pädagogen sind. Aber wir haben als Eltern eine Kompetenz – nämlich unser Erfahrungswissen, unsere Intuition. Wir kennen das Kind von Anfang an. Und dieses Wissen sollten wir stärker mit einbringen können – wie gesagt, es braucht ein Dorf

JP: Das sehe ich allerdings genau wie du! Einerseits glaube ich, dass wir als Eltern vielleicht nicht den Vergleich mit vielen anderen Kindern haben. Andererseits kennen wir aber unsere eigenen Kinder sehr gut. Naja, vielleicht gilt auch das nicht für alle Eltern. Und vielleicht kommt es von den schwarzen Eltern-Schafen, dass Lehrer und Erzieher so handeln…

TB: Ja, die gibt es natürlich auch. Aber mein Eindruck ist, dass oft Unsicherheit bei den Eltern dahintersteckt. Kommunikation ist auch hier wichtig – wertschätzende Kommunikation zwischen allen Beteiligten. Da gefällt mir das Modell der gewaltfreien Kommunikation sehr gut: Mehr wahrnehmen, weniger bewerten.
Letztendlich sind die Strukturen in Schule und Betreuung noch nicht immer so, wie man sich das wünscht. Ist ja auch noch nicht so lange her, dass Kinderbetreuung flächendeckend angeboten wird.

JP: Darüber wird in den Medien derzeit viel diskutiert. Und zu Recht muss ich sagen. Wir haben mit unserem älteren Sohn auch eine unschöne Betreuungserfahrung im Ganztag an der Schule gemacht. Gar nicht mal wegen der Erzieher und Betreuer. Aber es war für ihn viel zu laut, zu voll und zu unstrukturiert. Die Betreuer waren echt bemüht, haben ihr Bestes gegeben. Aber wenn du z.T. mit 60 Kindern oder so alleine bist… Unser Sohn ist vom Ganztag in den Halbtag gewechselt, was ich damals beruflich glücklicherweise abbilden konnte. Einer der Großen in dieser öffentlichen Diskussion ist Gerald Hüther, Hirnforscher (https://www.gerald-huether.de/). Er sagt, dass wir unser Bildungssystem grundlegend ändern müssen. Dass Schule ein System von vorvorgestern ist, dass Kinder fit machen soll für eine Zukunft, die wir nicht mal kennen. Schule heute hat eine Organisationsform, wie man sie aus Unternehmen der Kaiserzeit kennt.

Teamfähigkeit ist mir wichtiger als gute Noten!

TB: Ja, ich finde die Thesen von Gerald Hüther auch sehr überzeugend.  Bei vielen Eltern ist es glaube ich auch noch gar nicht richtig angekommen, dass unsere Kinder ganz andere Anforderungen und Möglichkeiten haben werden als wir. Lange hieß es ja auch, ohne Abitur hätten die Kinder weniger Chancen – jetzt dreht sich das gerade wieder und es wird beklagt, dass es zu wenig Azubis gibt. Dieses Hin und Her verunsichert natürlich.
Von Agenturseite her greifen wir solche Themen auf – auch weil wir uns als Eltern damit beschäftigen müssen. So haben wir jetzt auch das Thema “Berufsorientierung” auf unserer Webseite. Es gibt eine Initiative des Landes NRW zur Vorbereitung der Studien- und Berufswahl und die geht in der 8. Klasse los. Am Ende der 9. Klasse müssen die Kinder sich ja schon bewerben oder Entscheidungen für die weitere Schullaufbahn treffen – z.B. Kurse wählen oder die Schulform wechseln. Wir bieten in diesem Zusammenhang Elternveranstaltungen an, inzwischen zusammen mit der BOB (BerufsOrientierungsBörse). Letzten November hatten wir bei einer Veranstaltung an der Prismaschule hier in Langenfeld 120 Eltern zu Gast!

JP: Auf die BOB freue ich mich auch schon. Dieses Jahr bin ich ja auch zum ersten Mal dabei.

TB: Als agentur familienzeit bereiten wird die Themen auf, mit denen Eltern sich auseinandersetzen müssen. Und da gibt es so Vieles! Angefangen mit den Fragen und Entscheidungen rund um die Geburt, Babykurse, Gesundheit, Ernährung. Und dann natürlich die Frage der Betreuungsform – Kita oder Tagespflege und wo am besten, wie suche ich das aus… Dann die Schule – von Grundschule, über Wahl der weiterführenden Schule bis hin zu Berufsorientierung.  Eltern hängen immer mit drin. Auf der anderen Seite gibt es ein riesiges Angebot zur Unterstützung von Eltern – das aber oft die Eltern nicht erreicht!  Unser Anliegen mit der Agentur ist es, den Eltern Material, Infos und Wissen an die zu Hand geben, damit sie die notwendigen Entscheidungen treffen können.

10 Jahre Agentur Familienzeit

JP: Damit sind wir auch endgültig bei deinem jetzigen Beruf angekommen: Seit wann genau gibt es denn die Agentur Familienzeit?

TB: Uns gibt es seit 10 Jahren.

JP: Seit 2008 hast du also ein viertes Baby sozusagen. Du hast gesagt, dass ihr es als Eure Aufgabe seht, Eltern im Familienleben zu begleiten, mit Tipps, Tricks, Informationen, Ansprechpartnern, was auch immer gebraucht wird. Was ist deine Lern- und Erfahrungskurve in dem Thema insgesamt? Wie würdest du das in den Anfängen beschreiben und wie ist das heute?

TB: Wir haben ganz klassisch angefangen, wie Frauen halt anfangen, wenn sie sich selbstständig machen. Mit einfachen Mitteln und ganz viel basierend auf Netzwerk: Ich kenne jemanden, der jemanden kennt usw. Ganz am Anfang stand bei mir ein Coaching, aufgrund dessen ich die Entscheidung für diese Geschäftsidee und für meine Selbstständigkeit umgesetzt habe. Mein Coach kannte wiederum eine Grafikerin und die einen Webdesigner und der hat uns unsere erste Webseite gestrickt. Wir haben dann angefangen, die Seite mit Inhalten zu füllen. Und wir haben angefangen ein Netzwerk aufzubauen, Leute zu kontaktieren, kennenzulernen, und so sind wir an die ganzen Informationen gekommen. Irgendwann kamen die ersten positiven Rückmeldungen. Die Seite kam inhaltlich sehr gut an, war aber noch sehr unübersichtlich vom Aufbau her. Als ich dann krank wurde 2013 war das natürlich erstmal ein Rückschlag. Nach Abschluss der Behandlung wurde mir dann gesagt, dass ich eine 95-prozentige Überlebenschance habe…

JP: Sowas bekommt man gesagt?

TB: Ja, so geht man da raus aus einem Gespräch, aus der sogenannten „Tumor-Konferenz“. Aber immerhin. Es war ein guter Wert und es sah alles ganz gut aus für mich. Inzwischen waren die Kinder ja auch schon größer. Und das war dann auch der Moment, als Claudia und ich beschlossen haben, dass wir unseren Web-Auftritt und das ganze Angebot auf ein professionelleres Level heben wollen. Das war dann nochmal ein längerer Prozess und es hat gut ein Jahr gedauert, aber dann hatten wir unsere neue Seite. Bis sie ganz fertig war und wirklich allen unseren Ansprüchen genügt hat, verging dann nochmal ein ganzes Jahr.

JP: Ich habe sie mir eben nochmal angeschaut. Das habt ihr wirklich sehr schön hinbekommen!

TB: Parallel zu dieser Webseitenentwicklung lief die ganze Zeit meine Gesprächstherapie – mit dem Ziel Veränderungen herbeizuführen. Ich habe die Krankheit von Anfang an als Signal gesehen. Mein Ziel ist natürlich, dass sie nicht wiederkommt. Das heißt, ich musste in meinem Leben etwas ändern. Ich probiere also vieles aus. So wie ich auch Shiatsu ausprobiert habe. So habe ich eine Aufstellung gemacht – das hat mich sehr weitergebracht. Oder auch Energiearbeit, die sehr intensiv an Glaubenssätzen arbeitet, die in mir wirken und mein Handeln prägen. Das alles lief also parallel ab: Dass ich einerseits angefangen habe, meine Einstellungen, meine Erwartungen, mein Leben zu ändern. Und andererseits die Agentur Familienzeit auf ein professionelleres Level zu heben.

JP: Ich finde es gerade faszinierend zu sehen, wie deine Persönlichkeitsentwicklung letztlich dafür gesorgt hat, dass sich erstmal deine Familie geklärt hat und sich da viele Probleme vielleicht nicht in Luft aufgelöst haben, aber zumindest doch weiterentwickelt haben und lösen ließen. Und danach hat dann auch noch das berufliche vierte Baby deine ganzen persönlichen Lernprozesse weiter transportiert und damit einer breiteren Masse zugänglich gemacht. Und im Kern stand und steht deine Persönlichkeitsentwicklung. Das finde ich wirklich beeindruckend!

Meine Stärken haben mich nach vorne gebracht!

TB: Durch das Netzwerken habe ich viele Menschen kennengelernt – das hat mir gezeigt, dass Netzwerken eine echte Stärke von mir ist. Außerdem reflektiere ich sehr stark.  Ich überlege immer wieder, was ist gut gelaufen und was nicht? Und ich habe dabei auch kein Problem damit, mir einzugestehen, wenn etwas nicht gut gelaufen ist. Dann gehe ich ab da eben anders weiter. Deshalb war für mich nach der Krebserkrankung auch glasklar, dass ich was ändern muss. Es gibt ja die Meinung, eine Krebserkrankung sei totaler Zufall. Für mich gibt es schon einen Bezug zur Lebensgestaltung oder Lebensführung – vor allem bei emotionalem Stress.

JP: In meiner Ausbildung zur lösungsorientierten Hypnose wird ganz klar ein Bezug zwischen Körper, Erkrankung und Lebensweg hergestellt. Statistisch ist sowas allerdings sehr schwer nachweisbar, dabei vor allem eine Reproduzierbarkeit und statistische Überprüfbarkeit. Gleichzeitig gibt es in der Hypnotherapie den Denkansatz, dass Krankheit eine Absicht verfolgt. Wenn du den Körper als gesamtes System siehst, dann soll durch die Krankheit eine Art Gleichgewicht hergestellt werden, auch wenn das für das System als solches vielleicht langfristig schädigend ist. Das Körpersystem kennt aber keine Zukunft oder Vergangenheit. Körper ist im Hier und Jetzt. Unsere Hirnrinde, der Sitz unseres Bewusstseins, ist für solche Gedankengänge zuständig. Da regelt sich aber nicht das gesundheitliche Gleichgewicht. Es ist krass, aber in der Psychologie spricht man dabei auch von einem Krankheitsgewinn. In deinem Fall hat die Krankheit ja sehr eindrücklich dafür gesorgt, dass du was anders machst. Manchmal ist der Krankheitsgewinn aber auch so hoch, dass Betroffene sich auf einer unbewussten Ebene gar nicht von einer Krankheit lösen können. Und irgendwann ist eine Krankheit auch zu weit fortgeschritten, als dass Heilung möglich wäre. Interessante Frage: Wie viel von deiner Gesundheit hast du selber in der Hand?

TB: Schon erschrecken, dass in Deutschland ungefähr 70.000 Frauen jedes Jahr an Brustkrebs erkranken.

JP: Meine Mutter hatte auch Brustkrebs, damals in den 80ern. Bei ihr hat man direkt eine Brust amputiert.

TB: Das macht man heute fast gar nicht mehr. Und heute hat man auch eine viel bessere Überlebenschance. Noch vor zehn Jahren sah das ganz anders aus. Ich habe nicht mal eine Chemotherapie gebraucht. Ich habe Zufriedenheit gelernt. Ich freue mich eigentlich über alles, sehe überwiegend das Positive und das, was gut läuft. Und bei allem anderen überlege ich, was man ändern kann. Du kannst eine Menge bewegen!

JP: Das finde ich wirklich beeindruckend!

Ich bin froh, der Familie oberste Priorität gegeben zu haben.

TB: Jetzt gerade finde ich es bei meinen Kindern so schön, dass sie bei Fragen oder Problemen immer noch zu uns Eltern kommen. Ich bin froh, dass ich bei Not am Mann das Berufliche flexibel handhaben konnte. Gott sei Dank ging das gut in der Selbstständigkeit. Auch dass ich ein Angebot habe, dass hauptsächlich über Internet läuft und mich nicht an bestimmte Sprechzeiten bindet, das ist ein Vorteil!

JP: Darauf kannst du stolz sein!

TB: Ja! Vor allem in der Pubertät war es uns wichtig, im Gespräch zu bleiben, Interesse für die Lebenswelt des Teenagers zu zeigen, aber auch aus der eigenen Lebenswelt zu erzählen. Letztendlich ist es immer eine Gratwanderung zwischen Loslassen und zu viel machen …

JP: Was meinst du genau mit „zu viel“?

TB: Z.B. dass ich sie dann doch mal irgendwo hingefahren habe und nicht immer so streng war nach dem Motto „die müssen selbstständig werden“ und „die sollen das jetzt alles alleine machen“. Natürlich können die auch Bus fahren – aber auf diesen Strecken hat man dann auch wieder eine Gesprächsgelegenheit. Auf der anderen Seite habe ich gelernt, dass es in der Pubertät auch wichtig ist, als Eltern Position zu beziehen – und Grenzen zu setzen. Denn die Reibung an diesen Grenzen hilft den Jugendlichen ihre Identität zu entwickeln.

Eltern brauchen Stärke und Wissen, auch um die Mängel im System auszugleichen.

TB: Als Eltern stark zu sein und Orientierung zu geben finde ich wichtig! Aber natürlich anstrengend – vor allem wenn da eben auch noch der Job ist. Und man muss sich Wissen aneignen. Die Entwicklungsphasen und die damit verbundenen Entwicklungsaufgaben sind ausführlich von Wissenschaftlern beschrieben – andere Themen sind relativ neu. Wie z.B.  die Mediennutzung, die Eltern und Schule vor ganz neue Herausforderungen stellen. In den Spielen erleben die Jugendlichen, dass sie relativ schnell eine Belohnung bekommen für ihre Aktionen – das nächste Level wird freigeschaltet, es gibt einen neuen Autotyp oder Ähnliches. Und dann ist die Realität Schule und Familie leider ganz anders. Das macht es schwierig – vor allem für Jungs.

JP: Das sehe ich auch sehr kritisch!  Ein Ziel von dem Interview ist ja auch das offenzulegen, was normalerweise nicht besprochen wird. Was sind aus deiner beruflichen Sicht, bei der Agentur Familienzeit, in dem großen Netzwerk, das du hast… Was sind ganz typische Themen, wo gar nicht drüber geredet wird? Was sind heiße Eisen, wo man erst was von erfährt, wenn die Tür ganz feste zu ist oder nach dem dritten Glas Rotwein?

TB: Das Thema Kindererziehung. Alle haben natürlich den Anspruch, dass das gut läuft. Und man vergleicht sich mit anderen. Im Freundeskreis, in der Kita/Schule, in den Medien – aber gerade in den Medien kommt wenig reale Familie – eher die extremen Varianten.

JP: Varianten, bei denen sich der Normalbürger auf die Schulter klopft und sagen kann „Alles richtig gemacht!“

TB: Genau, es zeigt die Extreme!  Oder die perfekte Familien-Idylle bei Stars und Sternchen. Dieses Thema Elternschaft und Familie wird meiner Meinung nach zu wenig als Wert an sich in dieser Gesellschaft gesehen oder honoriert. Aus der Politik kommt die Nachricht: Wir bauen die Kinderbetreuung aus, dann klappt das schon mit der Vereinbarkeit! Aber so einfach ist es nicht. Betreuung ist nur ein Teilbereich. Du musst dich um den Haushalt kümmern, um die Gesundheit, Familienfeste, Freizeit organisieren, du musst dich mit den Institutionen auseinandersetzen… Und nach wie vor – das höre ich auch in meinen Beratungen immer wieder: Familienverantwortung ist nach wie vor ein Hindernis in vielen Unternehmen!

Es braucht Mut, in diesem Land Kinder zu bekommen!

JP: Du hast so eine tolle Übersicht mitgebracht, die die Themen der Agentur Familienzeit darstellt! Euer Spruch: Familienzeit, die Agentur, die Familien unterstützt! Alle inhaltlichen Themen nach Zielgruppen und in Verbindung mit einer Zeitachse sind dargestellt. Vom Zeitpunkt der Familiengründung, Babyzeit, Kleinkindzeit, Grundschulzeit bis hin zur Jugendzeit. Und dann liegen über die ganze Zeitachse hinweg ganz viele verschiedene Bereiche, um die man sich als Eltern kümmern muss. Da wird es mir echt warm ums Herz, weil ich hier endlich mal schwarz auf weiß sehe, wofür ich je zuständig war und was ein guter Familienmanager eigentlich alles im Griff haben muss. Eigentlich ist das ein Ausbildungsgang: Familienmanagement! Was man alles können sollte und welches Selbstbewusstsein man dafür auch aufbringen muss, um im Falle des Falles zu sagen: Das ist mein Kind. Und das ist meine Aufgabe. Und ich bin der Manager und ich lasse mir das nicht so erzählen.

TB: Ein Beispiel: Die Aussage, man bekäme einen Betreuungsplatz nur, wenn man einen Arbeitsvertrag nachweist

JP: Der Arbeitgeber sagt dir doch, du kriegst den Platz nur, wenn du Betreuung nachweisen kannst?

TB: Genau. So, dann beißt sich die Katze eigentlich in den Schwanz. Nur, vom Gesetzestext her ist es nicht so.

Vom Gesetzestext her ist es so, dass du vom ersten Lebensjahr des Kindes Anspruch hast auf 25 Stunden Betreuung.

Egal ob du arbeitest oder nicht. Und das sehe ich eben als meine Aufgabe: Die Eltern richtig zu informieren. Dieser Druck, der oft aus Eltern ausgeübt wird, ist absolut unnötig. Eltern haben es auch so schon schwer genug. Deswegen hieß unser Arbeitstitel am Anfang auch MUMM: Mut zum Kind. Mumm mit Doppel-M halt, weil es wirklich Mut braucht, in diesem Land Kinder zu bekommen. Gut, dass man Vieles vorher nicht weiß …

JP: Das ist wohl so. Als werdende Erst-Mutter hörst du, dass das Leben sich ändert. Aber was das wirklich bedeutet…

TB: Eine der wichtigsten Fähigkeiten überhaupt als Eltern ist für mich übrigens Kommunikation. Ich muss in der Kommunikation mit einem Lehrer beispielsweise vorsichtig sein, ich bin ja im Unterricht nicht dabei. Aber auch in der Familie im Gespräch bleiben – mit dem eigenen Partner, mit den Kindern. Kommunikation ist einfach wichtig. In einem guten Gespräch herausfinden, was dahintersteckt!  Das müssten alle Eltern lernen! Auch diese ganzen erzieherischen Aufgaben, diese Entwicklungsaufgaben des Kindes…Seit ich gelernt habe, dass z.B. in der Pubertät die Aufgabe „Reibung“ ist, damit sich die Identität, die Ich-Identität des Jugendlichen prägen kann, gehe ich mit dem Streit zuhause ganz anders um.

JP: Du lässt die Reibung stattfinden?

Eltern müssen Position beziehen!

TB: Das sagen die Experten – als Elternteil muss ich eine Position beziehen. Und das ist manchmal hart, dazu zu stehen, wenn Protest seitens der Jugendlichen kommt. Schwierig auch, wenn jedes Jahr eine andere Erziehungsmethode propagiert wird: Mal sind alle Kinder Tyrannen, dann wiederum werden Kuscheltiere verbrannt, wenn die Kinder nicht spuren. Das macht es nicht einfacher!

JP: Meine Kinder sind ja erst 8 und 10, d.h. wir sind noch mehr in der Grundschulzeit drin. Und ich bin nach den ganzen Jahren nach wie vor großer Fan von Jesper Juul. Werteorientierte Erziehung, was nebenbei gesagt unheimlich nah an den letzten Entwicklungen in der Führungskräfteentwicklung in Großunternehmen, wo es um werteorientierte Führung geht. Das Schwierige an dem Konzept ist, dass es sehr abstrakt bleibt. Es gibt eben nicht die zehn Regeln, die du befolgen musst, damit irgendwas funktioniert. Juul sagt aus meiner Sicht zu Recht, dass es die gar nicht geben kann, weil jedes Kind und jede Familie anders sind. Das finde ich deutlich praxisnäher!

TB: Genau! Aber die Werte, die sollte man schon festlegen und finden. Für uns ist zum Beispiel Zuverlässigkeit unheimlich wichtig.

JP: Aber was heißt das für dich konkret? Woran misst du Zuverlässigkeit? Wann ist etwas oder jemand zuverlässig und wann nicht? Das kann ja in verschiedenen Familien verschieden definiert sein.

TB: Richtig, aber das muss man halt für sich als Familie wissen – was ist einem wichtig?

JP: Dafür braucht es manchmal sehr viel Selbstvertrauen. Dass du dir traust und deinen Instinkten traust, auf der Basis auch Fehler benennst und den Finger drauflegst und sagst: So nicht. Egal wo. Da musst du aber erstmal mit deiner Persönlichkeit hinkommen. Insgesamt gibt es, glaube ich, eine sehr große Verunsicherung. Es gibt einfach wahnsinnig viel Informationsmaterial und genauso viele Meinungen. Beispiel junge Mütter mit einem Neugeborenen. Oft bekommen sie von zehn Leuten zehn verschiedene Ratschläge und sind danach nicht wirklich schlauer. Und dann den eigenen Weg zu finden, das Selbstvertrauen aufzubauen und sich ein Netzwerk zu schaffen, über das du die für dich guten Informationen bekommst…damit du wirklich selber durch das Leben finden kannst, das ist heute eine große Herausforderung. In dem Zusammenhang finde ich euer Angebot sehr, sehr gut. Und sehr wichtig!

Die Geschichte beeinflusst Eltern und Erziehung mitunter stark.

TB: Wir arbeiten stetig daran! Manchmal staunt man dann auch, woher bestimmte Haltungen und Einflussfaktoren kommen. Z.B. wenn du die Unterschiede in den Erziehungsstilen früher und heute siehst, was nicht selten Anlass für Diskussionen zwischen Eltern und Großeltern ist…. So gab es dieses Buch „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind.“

JP: Das von den 30er Jahren an bis in die 80er verlegt wurde? Johanna Haarer – die berühmteste deutsche Ratgeberautorin aller Zeiten! NSDAP-Mitglied und im “Dritten Reich” die staatlich empfohlene Expertin in Sachen Kinderkriegen. Das Buch ist nach dem zweiten Weltkrieg wieder aufgelegt worden mit dem Titel „Die Mutter und ihr erstes Kind“ – bis 1984…unfassbar! Zwischen den Neuauflagen liegt nur wenig textuelle Änderung, habe ich gehört. Unter anderem wird die „Verzärtelung von Kindern“ mit einer „Affenliebe“ gleichgesetzt, und es gibt Ratschläge, dass man das Kind möglichst mit dem Gesicht weg von der Mutter halten solle, damit nicht zu viel Zuneigung und Bindung entsteht…

TB: Und diese Sätze habe ich von meinem Vater gehört! Er hat immer wieder kritisiert, dass wir die unsere Tochter so oft rumgetragen haben. Nachdem ich von dem Buch wusste, habe ich verstanden warum. Sowas ist ja dann tief verankert in der Gesellschaft! Im Nachbarland Frankreich oder auch im Osten Deutschland gibt es z.B. schon große Unterschiede zu uns hier im Westen Deutschlands, wo die Werbung definierte, dass man nur geliebt wird, wenn die Wäsche weich genug ist.

Deshalb ist es wichtig, sich über die eigenen Vorstellungen als Mutter bzw. Vater klar zu werden. Wie will ich sein? Welche Erwartungen habe ich an mich? Welche Erwartungen kommen von andern und muss ich diese erfüllen?

JP: Beispielsweise hat Frankreich schon sehr lange eine gute Infrastruktur für Betreuung. Familie ist dort aber auch ganz anders ausgerichtet – so erlebe ich das bei unseren Freunden dort. Bei uns läuft alles sehr kinderzentriert, in Frankreich ist es sehr partnerzentriert. Da laufen Kinder halt mal eher mit, aber das Paar steht im Fokus. Es ist dort ein gesellschaftlicher Wert, dass Kinder sehr früh sehr selbstständig werden. Schon Vierjährige gehen dort selbstverständlich auf zweiwöchige „Stages“, Ferienfreizeiten. Frankreich ist aber laut Statistik auch führen in Europa im Einnehmen von Antidepressiva. Fast die doppelten Mengen wie bei uns. Ob es da Zusammenhänge gibt?

TB: Deshalb muss man sich auch immer fragen, von welchem Familienbild wir herkommen als Gesellschaft. Wenn man das für sich geklärt hat, sollte man sich auch mit der eigenen Organisation und Planung auseinandersetzen. Ich habe früher To-Do-Listen geschrieben, die immer länger wurden und mich zunehmend frustrierten. Heute habe ich mir eine flexiblere Struktur geschaffen, eine Art Stundenplan, in dem ich die zu erledigenden Aufgaben festen Zeiten zuordne. Z.B. ein Abend-Ritual als Vorbereitung auf den nächsten Tag: gemeinsames Abendessen, Schultaschen packen, Lebensmittel checken für Frühstück und Mittagessen, Waschmaschine füllen und programmieren. Damit morgens weniger Stress ist. Und das Morgenritual: Bis alle aus dem Haus sind, räume ich die Küche auf, hänge Wäsche auf und gehe einmal durch die Zimmer. Und dann ist aber auch erstmal gut mit Hausarbeit! Dann kommt der Job dran!

Ein persönliches Morgenritual & Mahlzeiten als gemeinsame Zeiten: Struktur und Netzwerk helfen bei der Organisation des Alltags

JP: Einmal „quickfixes“ – so haben wir das früher im Unternehmen genannt.

TB: Ja, genau. Gemeinsame Mahlzeiten sind uns wichtig – die Kinder sind jetzt meistens selbständig unterwegs. Die Chauffeur-Dienste sind weniger geworden. Dann ist es wichtig zu überlegen, wann hast du überhaupt noch gemeinsame Zeiten? Dazu zählt für mich auf jeden Fall das Essen. Und selbst wenn nicht viel erzählt wird, man sieht sich. Manchmal sitze ich von eins bis fünf in der Küche am Esstisch, weil jede Stunde einer kommt.

JP: Du bist da. Die Anlaufstelle!  Dein Tagesablauf ist also nach wie vor sehr familienzentriert, wenn ich dir so zuhöre. Und du hast eine relativ regelmäßige Struktur mit festen Ankerpunkten wie zum Beispiel Mahlzeiten.

TB: Ja. Meine Haushaltsorganisation ist sehr strukturiert. Montag ist bügeln, Dienstag einkaufen usw. Und Freitags ist Puffer – für das was liegengeblieben ist , weil mal wieder was Unvorhergesehenes war.

JP: Das hast du auch fest, ein Bügeltag?

TB: ich habe gemerkt, wenn ich das nicht fest mache, dann drehe ich das ständig im Kopf. Das Leben ist ohnehin doch noch sehr unvorhersehbar. Wenn die Kinder ein Thema haben, dann sage ich nicht, heute ist jetzt Bügelwäsche, sondern setze mich hin und nehme mir Zeit. Gut, der Korb ist dann halt etwas voller. Das mache ich dann in der nächsten Woche. Oder ich setze mich abends nochmal an den Schreibtisch. Insgesamt achte ich aber auch immer wieder darauf, Pausen einzulegen.

Und die dritte Säule, damit es besser klappt mit der Vereinbarkeit ist das Thema Netzwerk – und da tun sich, meine ich, auch viele einfach zu schwer. Manches schaffst du nicht alleine, da musst du dir auch Hilfe holen.

JP: Sowas anzusprechen scheint mir in Deutschland manchmal ein Problem. Der Preuße erledigt die Dinge erstmal stark und ohne Hilfe, oder?

B: Ja, und auch andere zu fragen, gerade am Anfang: Wie machst du das mit Familie und Beruf? Dieser Austausch darüber, was gut funktioniert und was nicht… Da ist für mich immer noch zu sehr Wettkampf drin. De Kraft, die das manchmal kostet, diese Fassade aufrecht zu erhalten „bei mir läuft alles super!“, die ist schon immens. Deshalb ist es wichtig, sich das richtige Umfeld zu suchen, die richtigen Freunde, wo man sich auch mal öffnen kann.

Es ist wichtig, dass man auch mal offen spricht.

Ich habe festgestellt, wie begrenzt meine Zeit ist. Und wenn du einmal schon über die Ausgestaltung deiner Beerdigung nachgedacht hast wie ich nach meiner Krebs-Diagnose, dann hast du da einen anderen Blick drauf.

JP: Warum halten Menschen eine solche Fassade aufrecht? Im Coaching sagen wir, dass es hinter jedem Verhalten eine gute Absicht gibt. Der Coach in mir fragt sich also sofort, was hat man davon? Was ist daran vorteilhaft, diese Fassade zu halten? Weil der Vergleich schlecht ausfallen könnte und man sich dann schlecht fühlt?

TB: Ich glaube ja.

JP: Weil du dann erfährst, dass du womöglich nicht alles im Griff hast…?

TB: Ich glaube, ja. In der Gesellschaft wird eben viel verglichen. Du kennst doch die Werbung: mein Auto, mein Haus, mein Boot? Frauen machen das viel zu viel – vergleichen! Und lästern.

JP: Ich erlebe Männer da manchmal unkomplizierter. Man bildet sowas wie Jagdgemeinschaften, die sicherlich auch zweckorientiert sind, wo man aber doch zusammen irgendwie was erreichen will. Bei Frauen ist es tendenziell eher so, dass jede für sich kämpft. So nach dem Motto ich mache es schon irgendwie alleine!

TB: Tja, wir überlegen, mit welchen Angeboten man Mütter über die Website hinaus erreichen könnte.

JP: Da habe ich auch schon die Erfahrung gemacht, dass ausgerechnet die, die am meisten von solchen Angeboten profitieren würden, die kommen nicht.  Weil sie keine Zeit haben. Und das finde ich so faszinierend. Da, wo der Leidensdruck am allergrößten ist, wo es eigentlich am logischsten wäre, sich Hilfe zu holen oder sich anderweitig zu kümmern oder sich zusammenzuschließen, weil es einfacher wäre, da tut man es nicht, weil man auf irgendeine Art und Weise verlieren könnte.

TB: Oft ist es eine Frage der richtigen Ansprache. Wir haben unseren Elternabend zur Berufsorientierung mit einem Versprechen betitelt: ohne Umwege zum richtigen Beruf. Da musst du dich nicht outen, dass es vielleicht gerade schwierig ist oder so. Sondern du kannst das einfach annehmen. Ohne Umwege ist doch klasse. Dass Umwege vielleicht manchmal ganz sinnvoll sind, das steht auf einem anderen Blatt. „Hilfe, ich verstehe mein Kind nicht mehr“ – das möchte keiner zugeben. Dabei sind viele Angebote und Information verfügbar, die das Leben für Eltern einfacher machen!

JP: Es gibt viel zu tun in dem Gebiet, ganz klar. Wir haben unheimlich viele schöne Dinge besprochen. Ich würde dir gerne noch die Abschlussfragen stellen, die ich immer frage. Das Erste ist, was gefällt dir jetzt an deinem Leben?

TB: Die Vielfältigkeit. Ich bin meinen Kindern dankbar für die Reise, auf die sie mich mitgenommen haben. Daraus haben sich auch diese Vielfältigkeit und die Kontakte entwickelt, die ich habe. Ich habe die Möglichkeit, so viele verschiedene Leute kennenzulernen mit so vielen Fähigkeiten. Meine Neugierde und Offenheit, die Fähigkeit zur Selbstreflexion, was mich eigentlich immer weiterbringt. Da bin ich echt dankbar. Und sonst bin ich eigentlich sehr zufrieden. Eigentlich läuft alles so, wie ich mir das mal vorgestellt habe. Die 50 überschreiten, die Krebserkrankung, das waren kritische Punkte. Aber mir ist auch klar, ich kann auch morgen auf dem Zebrastreifen überfahren werden. Insofern kann ich eigentlich jederzeit sagen, ich hatte ein geiles Leben.

JP: Das ist doch schon mal gar nicht schlecht als Zwischenbilanz.

TB: Richtig. Da bin ich auch sehr dankbar für.

JP: Drei Wünsche an die gute Fee?

B: Gesundheit. Gesundheit für meine Familie und Freunde. Und ein langes Leben.

JP: Schön! Ich glaube, mit dir könnte ich jetzt für dieses Interview noch immer weiterreden. Wir machen an dieser Stelle Schluss und für alle anderen, die das interessiert, werden wir eine Menge Links ergänzen, vor allem aber natürlich die Webseite der Agentur Familienzeit! Ich danke dir für das tolle Gespräch, deine Offenheit und den tiefen Einblick in deinen Erfahrungsschatz!

TB: Danke dir für die Möglichkeit. Das war auch für mich interessant!

 

Das war ein langes Interview. Aber es hat sich echt gelohnt, oder?

Hier finden sich jetzt nochmal alle interessanten Links zu den im Interview angesprochenen Themen:

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