German Angst – warum manche von uns gefühlt noch im Krieg sind und wie du damit umgehen kannst - #neuestärke

14. Sep, 2018

Der Coachee saß vor mir, völlig verzweifelt: „Was, wenn jetzt alles den Bach runter geht, wenn ich meinen Job verliere, dann das Haus… ich lebe doch nachher unter der Brücke!“ Die Faktenlage sah gänzlich anders aus. Das Coaching sollte sich um eine berufliche Neuorientierung drehen, wobei es „nur“ um einen Wechsel in eine andere Firma ging, nicht um eine Existenzgründung als Selbstständiger oder Ähnliches. Das Risiko war objektiv betrachtet alles andere hoch. Der Lebenslauf gut, der Mann gut ausgebildet und jahrelang erfahren. Außerdem befand er sich derzeit in einer ungekündigten, unbefristeten Anstellung. Und doch: Eine diffuse, ungeklärte Existenzangst, die immer wieder durchbrach… Was war das nur?

Tatsächlich erlebe ich das im Coaching Immer wieder bzw. ich spreche hier auch aus eigener Erfahrung. Vielen von uns plagen Existenzsorgen und -ängste. Komme ich zurecht? Was passiert wenn…? Oder auch die dramatische Vision, womöglich unter der Brücke schlafen zu müssen. Kennst du das auch?

Tatsächlich und realistisch hart betrachtet stressen sich die meisten von uns völlig umsonst. Eigentlich alle von uns. Es ist in Deutschland zur Zeit und trotz allem relativ schwierig, dass es wirklich um die Existenz, das eigene Überleben geht. Nie waren wir so sicher wie heute. Nie ging es uns so gut. Und doch: Da ist eine diffuse Angst, dass es ja passieren könnte. Warum ist das so?

Angst sichert das Überleben – Angst sorgt dafür, dass wir uns kümmern!

In der Folge mal eine Reihe von Aussagen und Fakten zum Thema Angst: Wo kommt das eigentlich her und warum war und ist Angst für uns sinnvoll?

  • Angst ist im Gehirn im ältesten Bereich „eingebaut“, zumindest der Gehirnbereich dafür. Man macht ihn im Amygdala, dem sogenannten Mandelkern fest. Das haben sogar schon Reptilien, denn…
  • Angst ist quasi unsere Lebensversicherung! Auch Reptilien müssen schnell entscheiden können, ob das über Ihnen ein Fressfeind ist und sie also fliehen müssen oder ob dieser Schatten da oben ungefährlich ist. Daher…
  • Angst bekommen geht ganz schnell und lässt sich oft erstmal schlecht bis gar nicht steuern. Denn das Angstzentrum wird vom Unbewussten gesteuert, damit wir möglichst schnell reagieren können. Das Unbewusste ist gegenüber dem Bewusstsein um ein Vielfaches schneller.
  • Angst ist eine ganz natürliche Sache: Jeder von uns hat sie! Es ist gut und gesund, an einem Abgrund Angst zu haben – dann fällt man auch nicht runter. Sie bewahrt uns also davor, zu viel Risiko einzugehen. Gar keine Angst zu haben ist sogar eine Art von Persönlichkeitsstörung!
  • Angst funktioniert wie ein gutes Brandschutzsystem: Rauchmelder müssen lieber früher als später angehen, damit Brände früh entdeckt werden und die Ausbreitung und eine völlige Katastrophe verhindert werden können. So gesehen ist es gut, lieber einmal zu viel Angst gehabt zu haben 😊.
  • Es gibt Situationen, in denen uns unsere Urinstinkte sagen, dass wir besser mal Angst haben sollten: Z.B. nachts draußen im Dunklen an einsamen Stellen. Das berühmte Rascheln im Gebüsch oder auch vor bestimmten Tierarten Angst zu haben ist normal.
  • Und dann ist es so, dass wir Angst auch lernen… oder erben? Letzteres ist in der Forschung, aber noch nicht abschließend belegt.

Angst wird oft gelernt

Wir lernen Angst auch von denen, die uns großziehen und prägen. Nicht selten wird eine natürliche Angst vor bestimmten Tierarten oder Situationen, wie die Angst vor tiefem Wasser oder vor Spinnen oder Schlangen etc. dadurch verstärkt, dass wichtige Bezugspersonen uns signalisieren „Achtung gefährlich!“ und dies auch körpersprachlich zum Ausdruck bringen.
Dazu zählt auch die Angst vor Menschen, die fremd aussehen, vielleicht anders als man selbst. Welche Auswirkungen das teilweise hat, das erleben wir gerade beim Thema Flüchtlinge im großen Stil.

Auch eine grundsätzliche Neigung zu Vorsichtigkeit und Ängstlichkeit wird gelernt. Und: Natürlich können fürchterliche eigene Erlebnisse (bleibende) Ängste auslösen, schlimmstenfalls Traumatisierungen zurücklassen.

Es gibt ganz viel, wovor man Angst haben kann. Und es ist immer wichtig, das erst einmal zu sehen und zu akzeptieren!

Gelernte Angst entsteht interessanterweise auch dann, wenn es in der direkten eigenen Biografie keine Schädigungen oder Traumata gibt. Aber natürlich kann es sein, dass unsere Ahnen tatsächlich schreckliche und ängstigende Erlebnisse hatten, bei denen sie etwas gelernt haben und diesen Lernerfolg haben sie weitergegeben. Auch das dient der Sicherung der Art. Dann kannn es passieren, dass diese Angst gar nicht mehr bestehen muss, weil es diese Erlebnisse oder auch Gefahren so nicht mehr gibt.

Was davon sind Weltkriegsfolgen…?

Meine Familien sind auf beiden Seiten weltkriegsgeschädigt:

  • Ich habe neulich noch ein Fotobuch wiedergefunden von den Kriegstagen meines Uropas aus dem ersten Weltkrieg. Joseph war ab 1914 bis wenige Tage vor Kriegende immer wieder teilweise wochenlang in den Schützengräben und ist knapp vor dem Kriegsende in einem Hinterhalt gefallen. Von ihm sind Kriegstagebücher erhalten, die mein Vater in mühsamer Arbeit entziffert und abgeschrieben hat. Das zu lesen hat mich sehr erschüttert! Es waren unvorstellbare Bedingungen, unter denen dieser Mann Menschen angeführt hat, tiefgläubig und immer mit Auge auf seine Mannschaften. Ich kann nur erahnen, was das mit einem Menschen macht! Joseph stellt 1/8 meiner Gene. In Autohypnose habe ich mir vorgestellt, wie es wäre mit ihm zu reden. Seine klare Botschaft: „Es ist immer Krieg. Immer noch! Du bist nicht sicher!“ (siehe dazu auch die Ergänzung am Ende des Artikels: Diese Arbeit ist öffentlich bei Europeana zu lesen)
  • Meine Eltern wurden beide auf der Flucht unter abenteuerlichen Bedingungen geboren. Mein Vater wäre fast verhungert als Säugling, weil seiner Mutter wegen Unterversorgung und Stress die Milch wegblieb. Meine Mutter wurde fast von russischem Gewehrfeuer erschossen, während meine Oma nachts durch den Wald lief mit Kleinkind an der Hand (mein Onkel) und meiner Mutter in einer Art Kinderwagen. Das Einschussloch lag nur Zentimeter neben Ihrem Kopf. Sie alle waren Flüchtlinge…
  • Ein Opa war in Russland an vorderster Front, wurde angeschossen und hatte bis ans Lebensende Albträume davon.
  • Düren, meine Heimatstadt, wurde im November ’44 dem Erdboden gleichgemacht – mehr oder weniger in einer Nacht. Nach Dresden ist sie tatsächlich die Stadt, die am meisten zerstört war, so sagt man. Vorher eine Stadt mit der höchsten Millionärsdichte in ganz Deutschland. Heute beherrscht vom Bausündencharme der 60er Jahre… viele Verwandte gefallen oder gestorben…
  • Als kleines Kind fand ich die Erzählungen meiner Oma unglaublich spannend! Während sie sich ihre Kriegstraumata wahrscheinlich regelrecht von der Seele redete – eine zarte und feinfühlige Frau, sensibel von Natur aus – lauschte ich ihr aufmerksam. Ich muss viel gelernt haben dabei.
  • Und dann neulich – ein ebenfalls sehr erhellendes Gespräch mit meiner Mutter dazu: Sie erzählte, dass Sie von Ihrer Mutter immer wieder gehört habe, wie wichtig es sei, ein kleines Kind NIE von der Hand zu lassen. Nie! Sie hatte wohl miterlebt, dass russische Soldaten Kinder von Ihren Eltern weggetrieben haben… was für ein Horror! Meine Mutter wurde also an der Hand groß, und auch von mir gibt es viele alte Bilder, wie ich immer wieder „am Händchen gehe“. Als Mädchen und auch Erstgeborene, auch in der Sippe, war man sehr um mich besorgt.

Das ist ein Auszug, und ich bin mit sowas in Deutschland weiß Gott nicht alleine. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass solche Kriegserfahrungen an uns als Gesellschaft und damit auch an uns Nachfahren spurlos vorübergehen. Wie sollte das gehen? Im Gegenteil: Ich bin fest davon überzeugt, dass es auch 50 und 100 Jahre später noch Auswirkungen hat. Und als ich zu Besuch bei Freunden in Kanada ein Brettspiel mitspielen sollte, das als Strategiespiel die Schlachten des 2. Weltkrieges nachstellte (Memoire 44, z.B. die Schlacht um die Ardennen, Deutsche gegen Alliierte), da war ich echt fassungslos… konnten sie nicht nachvollziehen, aber Kanada hat auch nie derartig Krieg auf eigenem Grund erlebt.

 

Im Ausland gibt es tatsächlich den Begriff der „German Angst“ …

German Angst – Folge und Ursache riesiger Veränderungen

Die German Angst wiederum (auch hier das Zitat von Wikipedia) beinhaltet Folgendes: „die zurückhaltende Außen- und Sicherheitspolitik Deutschlands nach der Wiedervereinigung, insbesondere in Bezug auf den zweiten Golfkrieg. Ebenso war die immer wiederkehrende, auf der Welt oft beispiellose Reaktion auf Ereignisse in den deutschen Medien ein Beispiel der „German Angst“. Populäre Anlässe hierfür konnten etwa die Flüchtlingskrise in Deutschland ab 2015Google Street View (dessen Erweiterung in Deutschland als einzigem Land eingestellt wurde), die Vogelgrippe H5N1BSE, die Risiken der Kernkraftwerke sowie die auswuchernde Angst vor dem Weltuntergang bzw. der Apokalypse durch den Klimawandel oder das Tōhoku-Erdbeben 2011 sein. Im Zusammenhang mit der 2007 eingetretenen Finanz- und Wirtschaftskrise stellt Ulrich Greiner im Mai 2009 jedoch fest, dass von „German angst“ und deutschen „hysterischen Erscheinungen“ im Unterschied zu Nachbarländern wie England und Frankreich nichts Besonderes mehr zu vermerken sei. Es sehe so aus, „als müssten die Deutschen ihr Bild von sich revidieren“. Als Erklärung bietet Greiner die Beobachtung an, dass „die Masse als unheimliches Tier, als politisch explosive Macht, […] wenn auch nicht verschwunden, so doch vom allgemeinen Prozess der Individualisierung geschwächt worden“ sei.“  – Wir scheinen uns also doch wieder zu erholen davon, wenn auch langsam.

Und noch etwas: Angst scheint letztendlich auch der unter allem liegende Auslöser für die großen Kriege gewesen zu sein, als Begleiterscheinung eines großen Prozesses der gesellschaftlichen Veränderung, im Zuge der Industrialisierung. Wikipedia dazu: „Der Erste Weltkrieg war nach dem US-amerikanischen Historiker Arno J. Mayer Ergebnis einer allgemeinen Krise, die ganz Europa … ergriffen hatte. Die europaweit immer noch herrschenden alten Eliten … hätten sich in ihrer privilegierten Stellung durch „das Tempo der kapitalistischen Entwicklung, die revolutionäre Gesinnung des Proletariats, die Verletzlichkeit des staatlichen Ordnungsapparats und die Verselbständigungstendenzen des Industrie- und Bildungsbürgertums“ bedroht gesehen. Die sich daraus ergebende „große Angst“ habe dann die Herrschenden „zur Idee eines präventiven, ‚reinigenden‘ Krieges“ geführt.“

Ist das krass? Wir Menschen führen Krieg, um die Angst in den Griff zu kriegen?

 

Selbstmanagement pur: Wir müssen lernen, besser und anders mit Angst umzugehen!

  • Wir müssen lernen, dass wir uns nicht vom Reptilgehirn steuern lassen.
  • Wir müssen lernen gut abzuwägen, wann Angst wirklich angemessen ist.
  • Wir müssen lernen, dass Angst uns lähmen kann und nur noch Flucht oder Angriff ermöglicht. Was heutzutage meistens nicht mehr angemessen ist.
  • Wir müssen lernen, dass nicht alles Fremde gefährlich ist.
  • Wir müssen lernen, dass uns Angst von anderen Menschen und unseren Möglichkeiten trennt.
  • Wir müssen lernen, dass Angst uns etwas zeigen möchte, dass sie aber nicht sofort eine Reaktion verlangt. Hinschauen ist verlangt!

 

Wir müssen eine #neuestärke entwickeln! Eine Stärke, die nicht auf der Basis von Angst beruht, weil wir uns wehren und schützen wollen. Sondern eine Stärke, die aus anderen Quellen gespeist wird, wie Liebe, Toleranz und Mitgefühl!

Angst ist  „nur“ ein Gefühl. Und sehr oft gibt es de facto keinen Grund, warum wir ihr glauben müssten.

Angst und Liebe geht nicht gleichzeitig.  Hier liegt auch der Schlüssel zur Überwindung dieses Erbes.

 

Was den oben genannten Coaching-Fall betrifft: Auch die Familie dieses Coachees hatte einschlägige Erfahrungen gemacht, in diesem Fall schwere wirtschaftliche Verluste und große Hungerzeiten erlitten. Sie hatten Haus und Hof verloren und tatsächlich draußen und ja, auch unter Brücken geschlafen. Lange bevor mein Coachee geboren wurde… Er war sehr überrascht, konnte damit verstandesmäßig aber auch etwas anfangen und seine Angst besser einsortieren. Sie war nicht weg, aber er konnte besser mit ihr umgehen und sich in der Folge auch gut auf einen anderen Beruf einlassen.

 

Schwieriges großes Thema – riesiger Anspruch – schwere Kost! Uff!

Wenn du bisher durchgehalten hast, dann danke ich dir für deine Aufmerksamkeit und freue mich auf deine Kommentare und Zuschrift. Gerne auch was posten unter #neuestärke…

 

P.S.: Ich danke meinem Vater, dass er sich die Mühe gemacht hat, Josephs Erlebnisse und auch sein Erbe derart aufzubereiten und sie uns allen so zur Verfügung zu stellen. Es war sehr viel Arbeit! Die Unterlagen sind in das Europeana-Projekt eingegangen und unter diesem Link Joseph Küsgens auch öffentlich einzusehen bzw. sogar frei zum herunterladen verfügbar. Der Titel aus großer Zeit macht mich immer noch nachdenklich. Dies alles ist unser Erbe, das wir auch sichern und weitergeben müssen.

 

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